Wer braucht eigentlich Erlösung???
Unschuld
Es war einmal eine Prinzessin, der war bei ihrer Geburt geweissagt worden, dass sie an dem Tag sterben würde, an dem sie ihre Unschuld verlöre.
Die Prinzessin, die sehr an ihrem Leben hing, hatte im Lauf ihres jungen Lebens sehr darauf geachtet, ihre Unschuld unter keinen Umständen zu verlieren.
Sie lebte auf ihrem prächtigen Schloss und freute sich an all den schönen Dingen, die sie dort genießen konnte.
Da sie von Tag zu Tag schöner und liebenswürdiger wurde, drang ihr Ruf bald in alle Welt und viele kamen, um sie kennenzulernen. Doch sie passte bei all den Begegnungen gut darauf auf, niemandem zu nahe zu kommen, um ihre Unschuld nicht zu verlieren und dann sterben zu müssen.
Mit der Zeit erfasste sie eine seltsame Unruhe und ihr Schloss mit all den schönen Abwechslungen und Beschäftigungen gefiel ihr immer weniger. Sie begann die Wälder zu durchstreifen, die ihr Schloss umgaben, und obwohl sie oft Angst hatte unter den dichten, dunklen Bäumen, zog sie der Wald immer wieder in ihren Bann.
Mit der Zeit entdeckte sie, dass es im Wald viele Höhlen gab, und dass einige von ihnen von Menschen bewohnt waren. Lange Zeit traute sie sich nicht in die Nähe dieser Höhlen aus Angst, jemand könnte ihr etwas antun, aber irgendwann siegte die Neugier und sie näherte sich einer Höhle. Es schien ihr als wäre diese von einer unsichtbaren Wand umgeben, die sie davon abhalten sollte, einzudringen. Doch sie ließ sich nicht abbringen und als sie sie betreten hatte, sah sie einen jungen Mann, der darin saß und mit traurigem Blick seine Suppe löffelte.
„Wer bist du?“, fragte die Prinzessin.
„Ich bin ein Prinz“, antwortete der Mann.
„Und warum bist du hier und nicht in deinem Schloss?“, fragte die Prinzessin verstört.
„ Mir wurde bei meiner Geburt geweissagt, dass ich sterben werde, wenn ich meine Unschuld verliere“, antwortete der Prinz. „Und weil ich immer mehr Angst hatte um mein Leben, habe ich beschlossen, hier alleine zu leben, damit mir niemand meine Unschuld wegnehmen kann.“
Da verließ die Prinzessin traurig die Höhle und ritt nachdenklich nach Hause.
„ Wenn nur so eine Art von Leben die Sicherheit gibt, die Unschuld nicht zu verlieren“, dachte sie, „weiß ich nicht ob ich diesen Preis für mein Leben zahlen kann“.
Noch neugieriger geworden, hielt sie bei einer zweiten Höhle an und ging zögerlich hinein.
Das gleiche Bild und die gleiche Antwort auf ihre Frage.
„Ich bin hier, weil ich sonst irgendwann meine Unschuld verlieren würde und dann sterben müsste“, sagte auch dieser Prinz, der noch unglücklicher aussah als der erste, wohl weil er schon länger in dieser Höhle saß, die ihm Schutz vor den Gefahren des Lebens verhieß.
Verzweifelt verließ die Prinzessin die Höhle und ritt nach Hause. Am Heimweg fiel ihr auf, wie viele solche Höhlen es in diesem dunklen Wald gab und dass die meisten von ihnen bewohnt waren von einem einsamen Prinzen oder einer einsamen Prinzessin.
In ihrem Schloss wurde sie immer schweigsamer, sodass alle rund um sie sich Sorgen machten. Ständig suchte sie in Gedanken nach einem Ausweg aus der Weissagung.
Doch da sie eine sehr mutige und lebendige Prinzessin war, erhob sie sich eines Tages nach einer längeren Bedenkzeit aus ihrem Bett und sagte zu sich selbst:
„Wenn ich so leben muss wie diese bedauernswerten Einsiedler, dann will ich lieber sterben!“
Sie ließ ihr Pferd satteln und ritt hinein in den Wald, der ihr so Angst machte und sie doch immer wieder anzog. Sie spürte, dass- wenn es eine Antwort gäbe- sie sie dort finden würde. Ziellos streifte sie eine Zeit lang umher. Dabei kam sie in einen Teil des Waldes, den sie noch nie vorher betreten hatte. Sie fasste all ihren Mut zusammen und ritt geradewegs hinein.
Nach einiger Zeit erreichte sie eine Höhle, die irgendwie anders war als die, die sie bis jetzt gesehen hatte. Sie schien sie richtig einzuladen, sie zu betreten, es war keine unsichtbare Wand aus Angst und Traurigkeit um sie herum, sondern ein einladendes Leuchten drang aus ihrem Inneren.
Sie betrat die Höhle und fand darin einen jungen Mann, der fröhlich am Herd stand und eine Suppe kochte. Als er sie bemerkte, sagte er: „Du kommst gerade recht. Möchtest du mit mir zu Abend essen?“
„Was machst du hier?“, fragte die Prinzessin und sah sich um.
„Ich wohne in dieser Höhle“, antwortete der Mann. „Und untertags arbeite ich im Schloss und koche für die Prinzessin und den ganzen Hofstaat.“
„Kennst du die Prinzessin?“, fragte sie vorsichtig.
„Nein“, sagte er traurig, „aber es kennt sie fast niemand, weil sie große Angst hat, Menschen zu begegnen. Man sagt, sie fürchte um ihr Leben, falls sie je einem Menschen zu nahe kommen sollte…“
„Na, sie will halt ihr Leben nicht verlieren, ist das so schwer zu begreifen? Was würdest du tun, wenn man dir geweissagt hätte, dass du sterben wirst an dem Tag, an dem du deine Unschuld verlierst?“, fragte sie aufbrausend.
Da sah er ihr lange in die Augen und begann zu verstehen, was sie bewegte.
Und auch sie sah ihn an und je länger sie ihn anblickte umso mehr schien sie zu begreifen, was die Weissagung ihr eigentlich sagen wollte.
Und so blieb sie bei ihm und sie nahmen sich die Zeit, einander zu begegnen und einander das zu zeigen, was jeder von ihnen bis jetzt gesucht hatte, bis die Angst ganz von ihr abgefallen war.
Als sie ihn verlassen musste und nach Hause ritt, hatte sich der Sinn der Weissagung für sie erschlossen und sie bewahrte ihn für immer in ihrem Herzen: Mensch sein geht nicht ohne schuldig zu werden.
Wer aber einem anderen Menschen mit Vertrauen begegnet, ohne Angst und Vorbehalte, der wird sich trotz allem die Reinheit seines Herzens bewahren können.
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